Auch siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist für viele Deutsche die verlorene Heimat noch allgegenwärtig. Klaus Pohl besuchte mit seiner Ehefrau am 30. Juli 2015 Ebersdorf, wo seine Vorfahren bis 1945 lebten.
Das Ehepaar aus Deutschland besucht den kleinen Ort an der Grenze zu Polen regelmäßig. Der Besuch des Friedhofs wird nie vergessen. Vor dem Krieg waren hier über 90 Prozent der Ein- wohner Deutsche.
1914 zählte Ebersdorf 200 Häuser mit 1100 Einwohnern. Die meisten von Ihnen waren Bauer, Handwerker und Arbeiter, die in den umliegenden Textilfabriken arbeiteten. Nach dem Krieg wurden die ehemaligen Bewohner aus Ebersdorf vertrie- ben. Heute leben da fast keine Deutschen mehr.
Einer der letzten (oder der letzte?) ist der fünfund-achtzigjährige Helmut Heidrich.
Die nach 1945 gekommenen neuen Bewohner nennen ihr Dorf in tschechischer Sprache Habartice. Arbeit und Perspektiven gibt es hier wenig. Junge Menschen zieht es fort. Es ist schwer, eine Arbeit zu finden.
Heute hat Ebersdorf nur 468 Einwohner (Stand 1. Januar 2015).
Seit dem es keine Grenzen mehr gibt, gibt es Probleme. Als der Schlagbaum zu Polen und Tschechien fiel, stieg die Grenzkriminalität. In der Gemeinde nahm der Diebstahl erheblich zu. Davon war auch der hiesige Friedhof betroffen. Von der deutschen Kultur ist nicht viel erhalten.
Viele Häuser wurden abgerissen. Noch heute findet man Grundmauern früherer Häuser, die nach dem Krieg geplündert und vernichtet wurden. Noch im Jahr 1963 wurden mehrere Häuser dem Erdboden gleichgemacht. Zerstört wurden auch viele kulturelle und sakrale Baudenkmäler. Unweit der Grenze befindet sich das alte Gebäude der ehemaligen Volksschule. Nach der Wende befan- den sich da eine Bar und ein Spielsalon. Seit Jahren steht das Haus leer. Was mit dem Spiel- salon geschieht, steht in den Sternen. Schon seit langer Zeit ist die alte Uhr auf dem Dach des alten Schulgebäudes kaputt.
Die verrosteten Zeiger haben sich schon längere Zeit nicht mehr bewegt. Die Uhr ist um 13.37 stehen geblieben.
Rechts an der stark befahrenen Hauptstraße, auf einem leicht hügeligen Gelände, liegt der alte Friedhof. Vor dem Eingang steht ein Kriegerdenk- mal, das an die Opfer des 1. Weltkrieges erinnert. Die Inschrift lautet: „Den Söhnen der Heimat, den Opfern des Weltkrieges 1914-1918".
Es folgen die Namen mit den Lebensdaten der Gefallenen. Leider ist die Inschrift kaum noch zu entziffern.
Das vom Bildhauer Gahler geschaffene Denkmal wurde am Sonntag, dem 5. Oktober 1926 feierlich enthüllt.
Für die deutschen Gräber auf dem Friedhof hat sich lange Zeit kaum jemand interessiert, denn nach dem Krieg waren viele Verwandte und Bekan- nte der Verstorbenen aus dem Dorf vertrieben. Manche Gräber sind inzwischen zugewachsen und kaum noch zu erkennen. Die meisten sind verschwunden. Einige Grabsteine sind so verwittert, dass nur noch wenige Schriftzeichen erhalten sind. Viele Gräber können nicht mehr identifiziert werden. Häufig fehlen die Namen der Toten, die hier ihre letzte Ruhestätte fanden und die uns an die vergangene Zeit erinnern. Einige Gräber sind mit Blumen geschmückt und lassen erkennen, dass die Trauer um die Verstorbenen nicht vergessen ist. In den letzten Jahrzehnten wurden etliche Grüften und Gräber mutwillig beschädigt. Alle Grab- platten der zahlreichen Wandgräber, die in die Friedhofsmauer eingelassen waren, wurden nach 1945 zerschlagen.
Die genaue Anzahl der Grabstellen und Grabsteine ist aufgrund des starken Bewuchses sowie der Zerstörungen nicht feststellbar.
Heute stellen die Friedhöfe den wichtigsten Rest der zerstörten deutschen Gemeinden dar.
Das sind die letzten Gräber mit Namen und Lebensdaten:
Rudolf Fleischer (*10.04.1897-†02.09.1919)
Franz Haase (*27.06.1863-†15.02.1953)
Anna Haase (*30.09.1882-†07.02.1961)
Anna Lux geb. Riemer (*13.12.1874-†20.11.1923) Josef Weikert (*11.07.1853-†17.03.1941)
Berta Ansorge (*28.09.1849-†07.12.1905)
Franz Krause (*26.11.1887-†30.10.1941)
Elsa Krause (*20.09.1915-†21.10.1941)
Franz Weiner (*24.11.1862-†17.01.1937)
Josef Gastring (*08.09.1874-†07.09.1934) Manfred Gastring (*14.01.1931-†18.05.1998)
Josef Gastring (*01.09.1843-†23.11.1914)
Josef Bergman (*29.08.1856-†06.09.1929)
Emil Brux (*21.12.1884-†24.05.1914)
Familie Dr. Hiebsch- (*22.08.1900)
Antonia Gastring geb. Lux (*28.04.1845-†10.08.1924)
Rosa Gastring geb. Herkner (*25.03.1879-†26.10.1921)
Anna Bergmann geb. Mieth (*17.11.1854-†04.06.1900)
Berta Bergmann geb. Brux (*09.03.1860-†28.06.1923)
Helena Dreβler geb. Bergman (*18.01.1849-†29.04.1919)
Auf dem höchsten Punkt der Anhöhe befindet sich das 1908 erbaute Mausoleum der Familie Anton Pohl. Diesen Namen gab es in Ebersdorf seit vielen Generationen. An der Stelle, an der das Gebäude steht, soll vor vielen Jahren eine Leichenhalle gestanden haben. Das Monument blieb nach der Vertreibung von den Verwüstungen verschont. Heute gehört die Ruhestätte der Familie Pohl der Gemeinde Ebersdorf und dient seit 1988 den Gläubigen, die sich hier in unregelmäßigen Abständen viermal im Jahr zur heiligen Messe treffen. Der letzte Termin war am 23. August 2015 - Festgottesdienst zum Fest der Maria Königin. Das nächste Treffen ist für Anfang November geplant.
Vor Kurzem wurde das mehr als hundert Jahre alte Mausoleum vom Klaus Pohl erstmals renoviert. Das Bauwerk, das mit Stromanschluss versehen ist, besteht aus einem kleinen Andachtsraum mit einem kreuzförmigen Grundriss und einer darunter liegenden Gruft. Eine schmale Treppe führt in das dunkle Totenreich, das für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Hier befinden sich in den Wand- nischen die Särge der Verstorbenen. Architekto- nisch ist dieser Bau beeindruckend. Auch die drei bunten Glasfenster sind original erhalten.
An den Innenwänden der Kapelle befinden sich Marmortafeln mit den Daten der Verstorbenen. Beigesetzt wurden in der Familiengrabstätte unter dem acht Meter hohen Kuppelbau sechs Angehö- rige der Familie:
Anton Pohl (*03.09.1805-†06.04.1864), Franzisca Pohl (*18.12.1808-†27.10.1889), Pauline Pohl (*25.06.1837-†27.08.1852), Anton Eduard Pohl (*17.02.1831-†04.09.1905), Anna Theresia Pohl (*11.06.1847-†07.05.1928).
1942 wurde der letzte Verstorbene - Anton Pohl - in der Familiengruft beerdigt. Sein Name befindet sich nicht auf der Marmortafel.
Auch der am Montag, 4. Juni 1962 in Ried im Innkreis (Oberösterreich) verstorbene Dipl.-Ing. Dr. Anton Pohl gehörte zur Familie. Er wurde am 28. September 1905 auf einem der ältesten Erbgerichtshöfe in Ebersdorf geboren. Nachdem er die Realschule und technische Hochschule (landwirtschaftliche Abteilung) mit Auszeichnung absolvierte, erwarb er auf der Hochschule in München auch sein Doktorat. Am 13. März 1962 wurde ihm das goldene Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich überreicht. Er war Leiter des Tierzuchtamtes Ried und einer der Mitbegründer und Leiter des Fleckviehzuchtverbandes Inn- und Haus- ruckviertel. Als Mitglied der europäischen Vereinigung für Tierzucht war er ein gesuchter Referent im In- und Ausland. Im Ried im Innkreis wurde die Pohlstraße nach ihm benannt. 2.500 Menschen geleiteten ihn zur letzten Ruhestätte in dem Dörfchen Mörschwang.
Nachkommen der Familie Pohl leben heute in Waldkraiburg (Landkreis Mühldorf am Inn), Görlitz und Rheinland.
Nach der Besichtigung des Mausoleums und des Friedhofs stand noch ein Besuch im alten Kretscham in Ebersdorf an. Auch dieses Gebäude gehörte bis zur Vertreibung zum Besitz der Familie. Der Nachmittag klang mit Erinnerungen aus. „Mich hat Geschichte immer interessiert", sagt Klaus Pohl und reist an diesem Nachmittag durch die Vergangenheit. Für ihn wird es nicht der letzte Besuch in Ebersdorf gewesen sein. „Ich komme mit meiner Frau wieder", sagte der ehemalige Bauingenieur beim Abschied.
Bis zum nächsten Mal...
Text und Fotos: Stanislav Beran